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Wenn wir den Drachen nicht töten können, müssen wir ihn zähmen
Mit einem harten und kompletten Lockdown, wie er in Wuhan praktiziert wurde, kann dieser R-Wert auf etwa 0,3 gesenkt werden: 1000 Infizierte führen zu 300 Neuinfektionen, diese zu 90, diese zu 27, diese zu 8, diese zu 2. Und das wars.
Das ist grossartig, um eine galoppierende Epidemie einzudämmen, aber das ist keine Gesellschaft, in der wir dauerhaft leben wollen. Und es bietet nicht einmal die Gewähr dafür, das Virus dauerhaft zu besiegen. Denn selbst in den am stärksten von Corona betroffenen Regionen wie Wuhan oder der Lombardei gelten immer noch mehr als 99 Prozent der Bevölkerung nicht als infiziert. Und das bedeutet: höchstwahrscheinlich ohne Immunität. Jederzeit kann also an jeder Ecke der Welt die Infektion wieder ausbrechen, sich erneut ausbreiten und den nächsten Lockdown erzwingen.
In Bergamo gelten die allermeisten Einwohner als nicht infiziert – trotzdem muss das Militär die Särge mit den Covid-Toten mit Lastwagen abtransportieren.
Sicher: Eines Tages wird ein Impfstoff helfen, uns immun zu machen. Aber das heisst noch lange nicht, dass er uns das Virus auf Dauer vom Hals halten kann. Denn es wird zu neuen Formen mutieren. Bereits jetzt sind mehrere Coronastämme nachgewiesen, die sich unablässig verändern. Die Mutationshäufigkeit liege zwischen einem Drittel und der Hälfte der Häufigkeit des Grippevirus, schätzt Ewan Harrison, der wissenschaftliche Projektmanager des britischen «Covid-19 Genomics UK Consortium». Ähnlich wie beim Grippevirus kann es auch bei Corona dazu kommen, dass immer wieder neue Impfstoffe entwickelt werden müssen, um neue Mutationen zu bändigen.
Wir werden also vermutlich noch lange mit diesem Drachen leben müssen. Und wenn wir ihn nicht töten können, sollten wir versuchen, ihn zu zähmen. Und das bedeutet: Wir sollten versuchen, uns gerade genug an diese neue Bedrohung anzupassen, um den R-Wert unter 1 zu halten – und das bestmögliche Leben unterhalb dieser Schwelle zu führen. Kurzfristig geht es darum, R zu minimieren; langfristig geht es darum, R zu optimieren. Nennen wir es: R-Design.
Das R-Design
Ein solches R-Design findet auf allen Ebenen und in allen Bereichen der Gesellschaft statt. Natürlich in der Medizin: mit der Entwicklung von Medikamenten, Impfstoffen, Therapien und Tests. Natürlich in der Politik: mit je nach Lage härteren oder weicheren Massnahmen gegen das Infektionsrisiko. Vielleicht wird jeder, der in die Ferien fahren möchte, einen Test oder eine Impfung nachweisen müssen. Oder es wird für jeden Ferienort eine Obergrenze der Besucherzahl vorgeschrieben. Oder die Polizei wird neben den Röhrchen für die Alkoholkontrolle auch noch mit Testkits für Corona ausgestattet.
Vor allem aber ist R-Design eine Aufgabe für die Wirtschaft. Ihre Produkte, ihre Prozesse, ihre Technologien, ihre Geschäftsmodelle können – und sollen! – dazu beitragen, das Verbreitungsrisiko zu reduzieren. Denn je geringer dieses Risiko ist, desto mehr Spielraum hat die Gesellschaft, einen neuen, lebenswerten Lebensstil zu finden.
Wie designt man R? Wie reduziert ein Unternehmen oder gleich eine ganze Branche das Ansteckungsrisiko? Es gibt einige naheliegende Methoden – etwa der Einbau berührungsfreier Türen in Büros, Läden, Ämtern, Toiletten. Wo kein Knopf und keine Klinke, da auch kein Risiko, durch deren Berührung infiziert zu werden. Oder das Schaffen von Freiräumen: zwischen Tischen im Restaurant, zwischen Zuschauern im Stadion. Wenn die Fussball-Ligen unter der Bedingung wieder starten dürften, dass jeder zweite Sitzplatz frei bleiben müsste: Würden sich Vereine und Fans darauf einlassen? Vermutlich.
Ein neues R-Design ist insbesondere für diejenigen Branchen notwendig, denen sonst die (fast) völlige Zerstörung droht. Messe- oder Konzertveranstalter beispielsweise. Das kann über Begrenzung der Besucherzahl gehen, über flächendeckende Tests oder über neue Technologien. Etwa indem in den Messeausweis ein Sensor eingebaut wird, der jede Bewegung des Besuchers während der Messe registriert. Stellt sich ein Besucher hinterher als infiziert heraus, lässt sich aus allen Bewegungsprofilen noch im nachhinein feststellen, wer sich wie lange in der Nähe des Infizierten aufgehalten hat. Das klingt nicht angenehm – aber wiederum: Wenn eine Messe nur unter der Bedingung stattfinden dürfte, dass jeder Besucher einen solchen Sensor trägt, würden sich sowohl Veranstaltende als auch Teilnehmenden wohl darauf einlassen.